Populärwissenschaftliche Literatur


Wissenschaft auf den Punkt gebracht


An dieser Stelle veröffentliche ich regelmäßig Rezensionen populärwissenschaftlicher Bücher, hauptsächlich aus meinem Themenspektrum, zum Teil aber auch darüber hinaus.


Rezension 02/2010 Rezensionen 2010

Debatte um den freien Willen des Menschen
Rezensionen 2011

Reinhard Werth: Die Natur des Bewusstseins. Wie Wahrnehmung und freier Wille im Gehirn entstehen


Das Bewusstsein gilt vielen Wissenschaftlern und Philosophen bis heute als ähnlich großes Rätsel wie die Entstehung des Universums. Denn wie aus den neuronalen Vorgängen im Gehirn das Bewusstsein des Menschen oder eines anderen höheren Lebewesens entsteht, ist nach wie vor kaum zu erklären. Nachdem das Phänomen des Bewusstseins lange Zeit Gegenstand philosophischer Debatten war, haben die Fortschritte in der Neurologie neue Aspekte hervorgebracht, darunter die Debatte um den freien Willen des Menschen. In Experimenten, bei denen Probanden Entscheidungen treffen sollten (z.B. die rechte oder die linke Hand zu heben), wurde mit Hilfe bildgebender Verfahren festgestellt, dass im Gehirn schon Bruchteile von Sekunden vor der sichtbaren Entscheidung Muster von Gehirnaktivitäten anzeigen, welche Entscheidung der Proband getroffen hatte. Eine Reihe von Neurologen schließt nun aus solchen und ähnlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass der freie Wille des Menschen nur eine Illusion sei; der Mensch deute eine unwillkürliche Handlung im Nachhinein als Willensakt.

Vor dem Hintergrund dieser Debatte hat Reinhard Werth offenbar sein Buch geschrieben. Denn wie der Untertitel bereits andeutet, geht es dem Autor darum, den freien Willen und das Bewusstsein logisch klar zu definieren und in neuronalen Vorgängen nachzuweisen. Dies geschieht hauptsächlich im 9. Kapitel, das mit Warum es einen freien Willen gibt überschrieben ist. Davor befasst sich der Autor u.a. mit verschiedenen Bewusstseinsstörungen, mit dem Erkennen und Erinnern, der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen und der Wahrnehmung der Zeit.

Interessant sind diese Darstellungen vor allem wegen der wissenschaftlichen Biografie Werths: Er ist Professor am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der Universität München und habilitierte sowohl in medizinischer Psychologie (Dr. med.) als auch in Wissenschaftstheorie (Dr. phil.). Er ist damit Grenzgänger zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften und kann beide Denkansätze miteinander verbinden. Seine Darstellung verknüpft zudem die einschlägige Fachliteratur mit Erkenntnissen aus eigenen Experimenten und Beispielen aus dem klinischen Alltags des Instituts.

Allerdings ist der Text sehr uneinheitlich. Während sich einige Kapitel fast wie ein populärwissenschaftliches Buch flüssig lesen lassen, verwendet Werth an anderen Stellen derart viele neurologische Fachbegriffe, dass einem Nicht-Neurologen die Lektüre sehr erschwert wird. Noch dazu hat man den Eindruck, dass viele der genannten Details nicht zum Erkenntnisgewinn beitragen. An vielen Stellen führt der Autor Befunde auf, die unverbunden nebeneinander stehen und nicht in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. So wird die Lektüre trotz oft anschaulicher Darstellung und aussagekräftiger Kapitelüberschriften zu einem zwiespältigen Vergnügen.

Dennoch halte ich Werths Buch für einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Bewusstsein und freien Willen. Wenngleich seine logischen Ableitungen nicht immer überzeugen, so bietet seine Darstellung zahlreiche Anknüpfungspunkte, um weiterzudenken und zu einer eigenen Meinung in der Debatte um den freien Willen zu gelangen. Ich persönlich teile die Auffassung Werths, dass zwar nicht alle Entscheidungen bewusst getroffen werden (zum Teil sind Affekte, Instinkte, einstudierte Aktionsmuster oder andere Impulse ausschlaggebend), dass es aber grundsätzlich einen freien menschlichen Willen gibt.

Rezension: Stefan Parsch


Bibliografische Angaben:

Verlag C.H. Beck, München
Taschenbuch, 234 S.
Erscheinungsdatum: 27.10.2010
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-406-60594-9



Rezension 01/2010 Rezensionen 2010

Evolutionstheorie und modernes Leben
Rezensionen 2011

Thomas Junker, Sabine Paul: Der Darwin-Code. Die Evolution erklärt unser Leben


Zu den zahlreichen im Darwin-Jahr 2009 erschienenen Büchern über Charles Darwin und seine Evolutionstheorie gehörte auch der Darwin-Code, der 2010 in der Beck’schen Reihe erschien. Thomas Junker ist Professor an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen, Sabine Paul ist Molekular- und Evolutionsbiologin mit interdisziplinärer Promotion und hat langjährige Erfahrungen als Wissenschaftsautorin. Beide befassen sich seit langem mit der Evolutionstheorie und deren Konsequenzen für das menschliche Leben.

Im Darwin-Code legen sie im Vorwort dar, dass Darwins Theorie zwar in der Naturwissenschaft unumstritten ist, dass es jedoch nach wie vor viele gesellschaftliche Strömungen gibt, die die Theorie ablehnen oder so verbiegen, dass sie zu ihrer Weltsicht passt. Diese Strömungen sind größtenteils religiös motiviert, aber es gibt auch kulturwissenschaftliche Auffassungen, denen zufolge zentrale Mechanismen der Evolutionstheorie, etwa Selektion und natürliche Auslese, kaum oder sogar gar keinen Einfluss auf den heutigen Menschen ausüben. Junker und Paul hingegen zeigen in ihrem Buch, dass es viele Wissenschaftsbereiche gibt, in denen die Evolutionstheorie zur Klärung vorhandener Probleme beitragen kann.

Im ersten Teil des Buches, Die Natur des Menschen − eine fremde Welt? befassen sich die Autoren zunächst mit der Ernährung. Sie erklären, weshalb wir uns so gerne ungesund ernähren und weshalb bisher als gesund anerkannte Lebensmittel wie Vollkornprodukte aus evolutionärer Sicht nicht zu den geeignetsten Nahrungsgrundlagen der Menschen gehören; denn Körner und Folgeprodukte wie Brot gehören erst seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 10.000 Jahren zum Speiseplan der Menschen. Eine evolutionäre Anpassung des Körpers dauert jedoch länger. Ähnlich verblüffende Erkenntnisse ergeben sich auch aus den Kapiteln über die Sexualität des Menschen sowie die evolutionäre Logik von Selbstmordattentaten, die auf den ersten Blick dem Erhaltungstrieb zu widersprechen scheint.

Im zweiten Teil mit dem Titel Geheimwaffe Kunst zeigen Junker und Paul die Unterschiede zwischen dem Homo sapiens und dem Neandertaler auf und erläutern wie Wissen zur Macht wird. In den Kapiteln Die Biologie der Kunst und Von der Magie der Höhlen zur Religion stellen sie dann eine neue Theorie vor, nach der die Kunst für die Entwicklung des modernen Menschen eine sehr große Bedeutung hat.

Schließlich geht es im 3. Teil um evolutionäre Strategien, etwa um den Sinn des Lebens oder den (nicht vorhandenen) freien Willen des Menschen. Gerade bei letzterem gerät die Argumentation ins Schlingern, wenn aufgrund neuerer neurologischer Erkenntnisse dem Menschen der freie Wille abgesprochen wird (siehe auch Rezension 2/2010), um ihn zum Ende des Abschnitts mit den Begriffen Handlungsfreiheit und Flexibilität des Verhaltens durch die Hintertür wieder einzuführen.

Insgesamt ist der Darwin-Code jedoch ein empfehlenswertes Buch, das zum Teil bekannte Tatsachen gut zusammenfasst und zum Teil überraschende neue Erkenntnisse bietet. Hinzu kommt ein Schreibstil, der sich sehr flüssig lesen lässt, ohne unwissenschaftlich zu werden. Am Ende hat der Leser oder die Leserin das Gefühl, wieder etwas mehr von der Welt verstanden zu haben.

Rezension: Stefan Parsch


Bibliografische Angaben:

Verlag C.H. Beck, München
Taschenbuch, 224 S.
Erscheinungsdatum: 27.08.2010
Preis: 12,95 Euro
ISBN: 978-3-406-60597-0